Schriftsprache stellt einen festen Bestandteil unseres Alltags dar. Dies gilt sowohl für den Berufsalltag (z. B. schriftliche Arbeitsanweisungen, E-Mails) als auch für den privaten Bereich (z. B. Formulare beim Arzt, Fahrpläne, Speisekarten, amtliche Briefe). Schrift ist für viele Menschen in Deutschland somit eine Selbstverständlichkeit, sodass sie in ihrer Präsenz und Bedeutung kaum noch bewusst wahrgenommen wird. Für Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten kann die Schriftsprache jedoch eine immense Hürde zur Bewältigung ihres (Arbeits-)Alltags darstellen.
Wann sprechen wir von „geringer Literalität“ bei Erwachsenen?
In der LEO-Studie 2018 sind die Lese- und Schreibkompetenzen der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung (18-64 Jahre) erhoben worden. Als Ergebnis hat die Untersuchung gezeigt, dass 12,1% der Deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung – das sind 6,2 Millionen Menschen – eine „geringe Literalität“ aufweist. Der Begriff „geringe Literalität“ meint, dass eine Person bestenfalls einfache Sätze lesen und schreiben, aber keine ganzen Texte verstehen kann. Viele Betroffene befinden sich sogar noch unterhalb der Satzebene und können entsprechend nur einzelne Wörter oder sogar nur Buchstaben lesen und schreiben.
Was können die Ursachen sein?
In unserer alltäglichen Arbeit stoßen wir immer wieder auf die Frage: Wie kann es so viele Menschen in Deutschland geben, die nicht richtig lesen und schreiben können, obwohl wir doch eine Schulpflicht haben? Unverkennbar ist, dass es nicht die eine richtige Antwort auf die Frage und damit häufig ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren (individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Art) gibt, die zu den Problemen führen. Als häufigste Ursachen können benannt werden:
– schwierige soziale und familiäre Verhältnisse, z. B. durch Trennung der Eltern, Vernachlässigung, Drogen- oder Alkoholprobleme in der Familie
– kein Kümmern der Eltern um den Bildungserfolg des Kindes
– zu großer Druck bei den Schulleistungen
– Brüche in der Schulbiografie, z. B. häufiger Schulwechsel und Umzüge
– nicht erkannte Lese- und Rechtschreibschwächen, z. B. durch zu große Klassen, Überforderung, Desinteresse am schulischen Erfolg oder Resignation der Lehrkraft
– negative schulische Erfahrungen, z. B. durch Mobbing, Bloßstellung an der Tafel oder beim Vorlesen; daraus resultierendes häufiges Fernbleiben des Unterrichts
– geringes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
– Stillstand beim Lernen oder sogar Vergessen des bereits Gelernten
Probleme von Betroffenen im (Berufs-)Alltag
Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten haben es in einer sich schnell verändernden Gesellschaft besonders schwer, sich den wechselnden Rahmenbedingungen anzupassen. Wo früher Informationen mündlich durch entsprechendes Personal übermittelt wurden, werden diese immer mehr durch Maschinen und automatisierte Vorgänge ersetzt. Man denke hier nur an die Entwicklungen im Online-Banking, an den Fahrkartenkauf am Automaten oder an den Online-Einkauf, bei dem trotz der Möglichkeit, durch wenige “Klicks” Waren direkt zu bestellen, etliche Texte erfasst werden müssen. Im Allgemeinen ist unser Leben immer mehr von Schriftsprache geprägt: amtliche Schreiben, Verträge und Arbeitsanweisungen müssen von uns unterzeichnet werden, wodurch wir garantieren, den Inhalt gelesen und verstanden zu haben. Die Art und Weise der Einnahme von Medikamenten soll man dem Beipackzettel entnehmen, der Gebrauch des neuen Elektrogerätes lässt sich in der Bedienungsanleitung nachlesen. Betroffene sind daher häufig von bestimmten Vertrauenspersonen abhängig, um diese Schwierigkeiten zu meistern. Dies führt zu geringeren Teilhabechancen von Betroffenen, die aufgrund ihrer Probleme öffentliche Verkehrsmittel nicht nutzen, Jobangebote oder Beförderungen aufgrund der Angst „aufzufliegen“ nicht annehmen oder nicht zur Wahl gehen, weil sie den Stimmzettel nicht lesen können. Schlimmstenfalls werden Gefahrenunterweisungen am Arbeitsplatz nicht richtig verstanden und es kommt zu Arbeitsunfällen.
Was können Hinweise auf Lese- und Schreibschwierigkeiten sein?
Folgende Punkte können Hinweise auf Lese- und Schreibschwäche sein:
1. Vermeidung von Situationen, die Lesen oder Schreiben erfordern
– Beförderungen werden abgelehnt
– im Restaurant werden, ohne Blick in die Karte, stets dieselben Speisen bestellt
– Informationsveranstaltungen werden nicht besucht
– Hinweise beim Schreiben: Schreibfehler, unsichere Schrift, „verkrampfte“ Stifthaltung
2. Betroffene finden stets eine passende Ausrede, um das Lesen und Schreiben zu vermeiden:
– „Können wir nicht lieber telefonieren statt per E-Mail zu schreiben?“
– „Ich werde das Dokument Zuhause lesen.“
– „Ich habe Ihre Nachricht nicht erhalten.“
– „Ich habe meine Brille vergessen.“
– „Die Schrift ist zu klein, ich kann das nicht richtig lesen.“
– Delegation an Familie, Kolleg-innen oder Fremde:
– „Den Schreibkram erledigt immer meine Frau / mein Mann.“
– „Mein Kollege füllt immer die Formulare aus, ich bin eher für‘s Anpacken zuständig.“
– „Ich habe mich an der Hand verletzt, könnten Sie das bitte für mich ausfüllen?“
Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf den Webseiten
in Ihrer örtlichen Volkshochschule.
der Alphadekade